Leseproben Wolf-Dieter Brandl
"Der Höllgraben"
Es gab auch noch einen weiteren Grund dafür, warum über
derartige Vorkommnisse nur geflüstert und nicht gesprochen wurde.
Trotz der Einflüsse der modernen Unterhaltungsindustrie hatte sich
die Kirche in diesen abgeschiedenen Landstrichen noch immer einen
dominierenden Einfluß bewahrt. Der sonntägliche Kirchgang
war nach wie vor ein wichtiges Ereignis im arbeitsreichen Leben der
Landbevölkerung, und das Wort des Pfarrers zählte viel. Es
ist nicht verwunderlich, daß der Klerus allen
Erklärungsversuchen, die sich auch nur in die Nähe eines
lange überwunden vermeinten Aberglaubens bewegten, resoluten
Widerstand entgegensetzte. Bei allen diesbezüglichen abendlichen
Gesprächen war immer streng darauf geachtet worden, daß kein
Vertreter der Kirche in Hörweite war. Trotzdem ließ es sich
nicht vermeiden, daß derartige Gerüchte manchmal bis zum Ohr
des Gemeindepfarrers vordrangen und ziemlich heftige Reaktionen
auslösten, die es geboten erscheinen ließen, diese Themen
eher nicht mehr anzuschneiden.
Damit soll keinesfalls zum Ausdruck gebracht werden, daß die
Kirchenvertreter in diesen ländlichen Gebieten weniger
aufgeschlossen gewesen wären als in den städtischen
Ballungszentren. Aufgrund der durch die Bevölkerung bei der
Schilderung derartiger Vorkommnisse gezogenen Schlußfolgerungen
mußte sie jedoch zwangsläufig zu der Auffassung gelangen,
daß dunkle Mächte dafür verantwortlich gemacht wurden,
und das war sicher eine Einstellung, die von der Kirche nicht
gutgeheißen werden konnte. Umso weniger erstaunlich war es daher,
daß eine breite Diskussion dieser Phänomene lange Zeit
hindurch unterblieb.
Zur allgemeinen Beruhigung mag diese Haltung sicher beigetragen haben,
es ließ sich aber trotzdem nicht vermeiden, daß immer
wieder gewisse Vermutungen über das Grabengebiet auftauchten, die
sich naturgemäß jeweils dann verstärkten, wenn wieder
jemand über ein seltsames Ereignis zu berichten wußte.
Weitere Vorkommnisse trugen in der Folge dazu bei, daß die
Gerüchte nicht verstummten und daß immer häufiger die
Frage nach den möglichen Ursachen gestellt wurde, auf die auch die
Kirche keine befriedigende Antwort geben konnte. Dabei standen
insbesondere zwei Fälle im Vordergrund, die näher beleuchtet
werden sollen, da sie doch weitergehende Konsequenzen nach sich zogen.
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Karl Siegenfeld, ein junger Lokalberichterstatter des "Tagblattes", war
jedoch nicht ganz überzeugt. Aus den etwas ausweichenden
Kommentaren des Pressesprechers des Ministeriums hatte sich bei ihm der
Verdacht geregt, daß hier ein dichter Rauchvorhang vor einer
nicht ganz unwichtigen Angelegenheit aufgezogen werden sollte. Durch
eine glückliche Fügung war er auch im Moment mit anderen
Agenden nicht sonderlich ausgelastet, wodurch es ihm möglich
wurde, unter zögernder Zustimmung seines Vorgesetzten weitere
Recherchen zu unternehmen. Das Anzapfen einer vertraulichen Quelle im
Ministerium brachte ihm eine relativ genaue Darstellung des Ablaufes
der Angelegenheit, die aber auch da noch für eine
Berichterstattung relativ dürftig erschien.
Mit journalistischer Akribie ging er aber dann auch den unergiebig
scheinenden Spuren nach, die ihn zunächst zu Dr. Natterer
führten, demjenigen Experten der niederösterreichischen
Veterinärbehörde in St. Pölten, der die Gewebsproben
untersucht hatte. Von Siegenfeld wurde folgende Abschrift eines
Tonbandprotokolls über das Gespräch mit Dr. Natterer zur
Verfügung gestellt:
Siegenfeld: Herr Doktor, eine amerikanische Zeitung berichtete
über das Auftreten eines geheimnisvollen Rindervirus in
Österreich. Die uns bisher vorliegenden Auskünfte haben
ergeben, daß Sie derjenige waren, der diese Angelegenheit ins
Rollen gebracht hat. Können Sie uns nähere Details über
diese Entdeckung geben?
Dr. Natterer: Als Journalist wissen Sie sicher besser als ich,
daß der Inhalt einer Pressemeldung nicht immer voll ihrer
eigentlichen Bedeutung entspricht. Ich glaube, daß hier eine
Sache einfach aufgebauscht wurde. Von einem mysteriösen Virus kann
doch gar keine Rede sein. Von mir wurde lediglich eine
geringfügige Anomalie in einer Probe festgestellt, die ich
entsprechend den geltenden Bestimmungen dann an das Ministerium
eingesandt habe. Das habe ich auch schon vorher in einer ganzen Reihe
von Fällen so gehandhabt.
S: Können Sie die festgestellte Abnormalität näher beschreiben?
N: Sicher könnte ich das, ich will Sie aber nicht mit
medizinischen Fachausdrücken konfrontieren, die die Sache für
Sie nicht klarer machen würden. Im wesentlichen handelte es sich
um eine ungewöhnliche Molekülstruktur, die aber meiner
Ansicht nach in keinem Zusammenhang mit dem Verenden des Tieres stand.
S: Wie können Sie sich dann aber den plötzlichen Tod der Kuh erklären?
N: Ich glaube, daß das Tier ganz einfach in einen Schockzustand
geraten war, wofür einige Umstände maßgeblich gewesen
sein könnten: Der Ausbruch aus dem gewohnten Umfeld des
Weideplatzes, die ungewohnte Umgebung des dichten Unterholzes, der
Verlust des Anschlusses an den Rest der Herde, die Unmöglichkeit,
allein den Rückweg in die vertraute Umgebung zu finden, und
schließlich das einbrechende Unwetter, das die erwähnten
Faktoren noch verstärkte. Sie dürfen nicht glauben, daß
nur Menschen an einem Schock sterben können, auch bei Tieren kann
in solchen Fällen das vegetative Nervensystem grundlegend
gestört werden. Vielleicht hat die Kuh auch von giftigen Pflanzen
gefressen, die in unseren Wäldern in vielen Formen vorkommen.
S: Ihre Untersuchungen haben aber keine Hinweise auf eine derartige Vergiftung ergeben?
N: Nein. Das muß aber auch nicht notwendigerweise der Fall sein,
da sich einige pflanzliche Gifte sehr rasch zersetzen, und mir die
Gewebsproben erst nach drei Tagen zur Verfügung standen.
S: Wenn Sie an diesem Fall nichts Ungewöhnliches sehen, warum
wurde dann Ihrer Meinung nach die FAO eingeschaltet? Eine
Unterorganisation der Vereinten Nationen kann doch sicher kein
Interesse am Verenden einer Kuh in einem österreichischen Dorf
haben.
N: Dazu kann ich wirklich nichts sagen, die internationalen
Meldeverpflichtungen sind mir nicht bekannt. Da müssen Sie schon
beim Ministerium nachfragen. Meine ganz private Meinung ist, daß
hier eine Mücke zu einem Elephanten aufgeblasen wurde.
S: Welche Empfehlungen würden Sie aus veterinärmedizinischer
Sicht an die Landwirte geben, um ihr Vieh vor ähnlichen Gefahren
zu schützen?
N: Aus medizinischer Sicht gar keine, da dazu keine Veranlassung
vorliegt. Ich würde den Bauern lediglich nahelegen, auf ihr Vieh
besser aufzupassen und keine Gatter offen zu lassen. Sie müssen
aber selbst einsehen, daß ich damit nur eine Binsenweisheit von
mir geben würde, was ich wirklich nicht beabsichtige.
S: Erwarten Sie sich Ergebnisse aus den Analysen der FAO?
N: Sicher nicht. Glauben Sie mir bitte: Der Fall hat wirklich keine
ungewöhnlichen Aspekte, und meiner Ansicht nach ist das alles
schon wegen Bedenkenlosigkeit in irgendeinem Aktenschrank gelandet.
S: Herr Doktor, vielen Dank für das Gespräch.
Das Ergebnis dieses Gespräches konnte Siegenfeld nicht
zufriedenstellen. Immer mehr verstärkte sich bei ihm der Eindruck,
daß Umstände vertuscht werden soll- ten, die weitaus mehr
öffentliche Aufmerksamkeit ver- dienen würden. Er ließ
daher nicht locker.
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Ende der Leseprobe