Leseproben     Silvia Gall

"www.orpheus.komm!"


......... Und da einige meiner gemalten und gezeichneten Akte im Internet zu sehen sind, werde ich eben auch gelegentlich kontaktiert, ob ich denn nicht auch auftragsmäßig zeichnen würde, oder es kommen einfach bloße Glückwünsche zu besonders gelungenen Studien.
Derartige E-Mails bin ich gewöhnt.
Andere wieder nicht:


Sehr verehrte Frau Doktor,
es ist selten und deshalb umso faszinierender, im NETZ Begeg­nungen auf der gleichen künstlerischen Ebene ästhetischer Affinität und visuell-erotischer Intensität zu knüpfen. Vielleicht gelingt es Ihnen und mir – im Austausch bildnerischer Poesie?
Ihr ORPHEE

und wie würden sie sich das vorstellen?

In allen Anfängen liegt ein Begehren und ein dunkel-süßes Verlocken zur Enthüllung des so unbekannten fremden Zaubers. So wie die erste Linie einer Federzeichnung, das erste atemlose Setzen einer Farbe zum Ausdruck der traumtiefen, inneren Ahnung wird, so ist nicht die geschlossene Vorstellung, sondern die offene, verführerische Suche das mutige Zeichen des Beginnens. Aber die virtuellen Wege setzen Grenzen und Möglichkeiten zugleich für einen sich annähernden Austausch, für eine unendlich freie Begegnung. Wir sollten deshalb gegenseitig wissen, welche Instrumentarien unsere virtuelle Kommunikation ermöglichen und vor allem kreativ gestalten.

Meine PC-Instrumente sind:
Page Maker
Corel Draw
Photoshop (Meine Bild-Anlagen sind TIFs oder JPEGs.)

Meine Bilder:
Akt
Ars erotica
Landschaft

Und Sie??? Ich bin (neu)gierig auf die Bilder, die nicht im Netz gezeigt sind, und auf die ungemalten, vorerst noch erträumten Bilder.
Für heute genug.
Unbekannt & glühend
Orphee

Mit Rührung lese ich diese Zeilen, die im Zeitalter der Bildersprache und Zweiwortsätze ja schon extrem exotisch-erregend auf mich wirken. Einen Dichter wollte ich immer schon zu meinem Bekanntenkreis zählen. Und übel sieht er auch nicht aus – wenn das ziemlich unscharfe Bild, das er gemailt hat, wirklich echt sein sollte, finde ich ihn sogar recht attraktiv.

ihr poetisch-kryptischer stil gefällt mir – obschon er sich nicht mit meinem deckt. da ich im zivilberuf eine äußerst diesseitige unverträumte bodenständige, nur allzu weltliche architektin bin, besitze ich nur berufseinschlägige hard- und software. ja nicht einmal ein scanner befindet sich derzeit in meinem besitz. ich bin bemüht, dieses manko ehest möglich auszugleichen, würde mich ja ansonsten wie ein lehmverkrusteter zwerg neben lauter sonnenbeschienenen wesen fühlen; dennoch kann ich ihnen via internet keines meiner bilder zeigen, lediglich die ihren bewundernd betrachten. macht es ihnen etwas aus, mir zu sagen, wer sie sind? wie sie aussehen, weiß ich jetzt schon, wie ich aussehe, wissen sie ebenfalls schon durch die homepage. ich würde übrigens eine gemeinsame – nicht virtuelle – ausstellung bevorzugen.


Sie lieber, charmanter Zwerg,
kokettieren Sie nicht mit einer (vorgeblichen) unverträumten Diesseitigkeit, mit einem unerotischen architektonischen Dasein, dessen heiligster Zweck und Dienst sich jede Sehnsucht nach Traum und Fantasie verböten – Ihr Bild, trotz aller Unschärfe, Ihre geheimnisverbergenden Augen und überdeutlich Ihre Kunst verraten die heftige sinnliche Gegenteiligkeit. Oh, ich kann so vieles darin lesen und mehr noch ahnen, aber um wie viel lieber noch würde ich Sie malen und Zeichnung um Zeichnung die in Ihnen unruhig ruhenden Geheimnisse dechiffrieren.
Zwischen nervösem, zeitraubendem Eingebundensein in Aufgaben, Einladungen und Verpflichtungen schreibe ich diese Zeilen und muss auch schon enden. Vielleicht noch heute spät am Abend mehr.
ORPHEE


.........

Noch eine bisher immer beiseite geschobene Frage zu deinen mir bekannten, im Netz ausgestellten Bildern, speziell zu der feinfühlig und zugleich expressiv getuschten Vagina und zum stolz-vitalen Schwanz: Ist das nur das naturwissenschaftlich ästhetische Interesse einer distanziert beobachtenden und illustrierenden Biologin? Zugleich ist die unmittelbare Verlockung so sehr darin angelegt, dass ich immer wieder und wieder deine Briefe nach Zeichen für eine Entschlüsselung des Rätsels geradezu kriminologisch untersuche.
Hilfst du mir oder belässt du mir die (verlockende) Bürde des Entdeckens – gegen meine ungezügelte Neugier (dann gib mir aber wenigstens einen kleinen Wegweiser).
ORPHEE

.........

guten morgen! sex am morgen nimmt kummer und sorgen. ich liebe liebesakte gleich nach dem aufwachen. lass mich meinen körper an deinen drücken und meinen mund dich zärtlich berühren, meine lippen und meine zunge deinen körper sanft erforschen, vom scheitel langsam hinabgleitend bis zum empfindsamsten punkt deiner männlichkeit. (wir verwenden kein kondom, oder? familie gründen will ich sowieso nicht mehr und aids hab ich auch nicht. ) ich spüre genau wie du, wie alles in unseren körpern pulsiert und schreit, es endlich geschehen zu lassen. ich bitte dich, unsere morgendliche intimbegegnung zu ende zu formulieren.
o


Während der Überspielung der Bilder, wächst bei mir die Lust, dich jetzt zu verführen. Dir dein Herz und deine im Mondenrhythmus wachsende, saftquellende Frucht zu küssen und dich zu nehmen in einer Situation, in der du „hilflos“ bist, von Menschen umgeben, die dich beobachten, von Aufgaben bestimmt, die dein klares und erfassendes Denken fordern – und so kann ich unsichtbar und unerkannt den leidenschaftlichen Raub vollziehen.
Oh, wie du anschwillst und leis’ dich öffnest, die Blüte, noch eben marmorn kühl, perlt selbstvergessen und erwachend Glanz und Liebestau auf meine Lippen. Ich will dir alles tun.
ORPHEE


liebe mich – wild, blütenzart, gierig, dämonisch, lyrisch und geil, reitend, windend, wie eine Göttin kämpfend und sich ihre vulkanische Lust raubend. Liebe meinen Atem, meine Säfte, meine Berührungen, mein Sehen und meinen Tod im Spiegel und lass mich überquellen von Leben!
ORPHEE


ich weiß, a, aber leider nur virtuell??!!
o


Gibt es einen anderen Weg? Kannst du noch warten oder verglühst du in der Zeit?
A.


nein, ich werde nicht verglühen, trotz all der flammen, die um mich lodern. ich werde mich zwischendurch abkühlen (oder ganz profan – in mein schwimmbecken springen).
o

.........

Ende der Leseprobe