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Leseprobe
"Eisenbahng'schichterln", Bert Enge
, Buch: ISBN 978-3-900044-62-6

Bahnfahrt mit Schwiegermutter – 1986

Im Jahr 1986 war es soweit. Meine Schwiegermama wollte mit Susi und mir nach Italien reisen. Nach dem Tod ihres Mannes drei Jahre zuvor war sie endlich bereit, ihre jahrelange Urlaubsabstinenz aufzugeben. Wir wollten ihr unseren Lieblingsort Milano Marittima zeigen.

Zunächst schien sie sich bei Reiseantritt am Wiener Südbahnhof nicht allzu wohl zu fühlen. Wir befanden uns in einem Zugabteil mit rumänischen Gastarbeitern, die aus ihrer Heimat nach Rom reisten, um an ihre Arbeitsstätten zu gelangen – und es war tatsächlich auf Dauer anstrengend, einer laut geführten Unterhaltung zuzuhören, ohne auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Wenigstens dösten während der Nachtfahrt dann doch die meisten.

Zu allem Überdruss fuhren wir so zwischen 7 und 8 Uhr früh in der Region Venetien durch eine massive Gewitterzelle, wie ich sie in dieser Form noch nicht erlebt hatte. Die Wolkendecke hing keine dreihundert Meter über der flachen Landschaft. Kurze, gleißende, direkt zum Boden fahrende Entladungen konnte man ständig sehen, und es war keine Überraschung, dass eine davon in den Triebwagen unseres Zuges einschlug. Wir rollten langsam aus und kamen genau auf der Brücke über der wild schäumende Brenta zu stehen – 40 Minuten lang, es war unheimlich. Endlich kam eine Ersatzlok, die uns abschleppte. Wir waren sehr erleichtert, endlich in Bologna in die Nebenlinie nach Cervia umsteigen zu dürfen. Susi und Mama waren etwas erschöpft, ein kurzes Frühstück im Bahnhof tat uns gut, so be gann sich unsere Laune bald zu bessern.

In unserem Abteil befanden sich drei junge Mäd chen, die Lieder anstimmten. Sie waren durchaus mit angenehmen Stimmen ausgestattet und sangen die so sehr ins Ohr gehenden Schlager von Anna Oxa. Einer davon gefiel mir besonders, wie ich von ihnen erfuhr, hieß er „Caminando, Caminando“ – ich besorgte mir später in Cervia die Schallplatte. Leider war ich der einzige von uns dreien, der an dem Gesang Freude empfand, jetzt wäre ich gerne Alleinreisender gewesen. Susi und Mama murrten unüberhörbar. Klar, sie waren etwas übernächtigt und geschlaucht, normalerweise hätten sie sonst auch anders empfunden. In diesem Zwiespalt der Gefühle war ich gefangen und dann doch erleichtert, als die Mädels in Ferrara ausstiegen.

In unserem Hotel angekommen, erholte sich unsere Laune bald und Mama war schließlich begeistert – es herrschte ja auch schönes Wetter – vom allgemeinen Ambiente, dem gemütlichen Piniengarten, den schönen Blumen, dem freundlichen Empfang durch die liebe Alves, des Hotelbesitzers Schwester. Auch vom Strand und dem Empfang in unserem Lieblingsbagno, wo man uns alljährliche Stammgäste ja sehr schätzte. Auch viele deutsche Gäste waren wie jedes Jahr schon anwesend. Es wurden zwei wunderbare Wochen, nur ein schweres Gewitter trübte ein wenig die gute Stimmung, denn als diese Front vom Meer her aufzog, hatte ich meine zwei Lieben schon überredet, ins zweihundert Meter entfernte Hotel aufzubrechen. Arno und die Seinen spielten in Ruhe neben dem Bagno weiter Boccia. Als wir schon im Garten unseres Hotels saßen, gab es einen gewaltigen Donnerschlag. Mama, die schon in einem gemütlichen Stuhl eingenickt war, erschrak gehörig. Der Blitz, von dem ich vermutet hatte, er wäre in eine Pinie neben uns eingeschlagen, traf in Wirklichkeit die TV-Antenne unseres Bagnos, das wir eben erst verlassen hatten, verlief über die Leitung in den TV-Apparat, und trat dann seinen Zerstörungsweg im Strandsand über das Grundwasser zum Meer hin an, die letzten Badenden, die sich auf ihren Liegen befanden, wurden in den Sand geschleudert. Als alle bleich zurück im Hotel eintrudelten, bereuten sie, beim Verlassen der Strandbar nicht meinen warnenden Worten gefolgt zu sein.

Nach den beiden Wochen stand jetzt noch eine Bahnrückreise bevor, die einigermaßen abenteuerlich verlief. Wir nahmen jetzt die direkte Route, mit dem Adria-Express der ÖBB, der jeden Samstag nach Rimini und retour fuhr, dabei brauchte man wenigstens nicht umzusteigen. Es waren nicht die besten Waggons, die für diesen Zug bereitgestellt wurden. Was die Reinlichkeit der Fenster und der WC-Anlagen betraf, hatten die Italiener bei der Zugumkehr in Rimini offensichtlich keine Mühe aufgewendet, auch in die Waschbehälter der Toiletten war kein Wasser nachgefüllt worden.

Etwas Gutes hatte diese Fahrt später dann doch noch, als wir dann ab Venedig ein Abteil für uns alleine zur Verfügung hatten. Aber davor gab es Stresssituationen, wie ich sie selten zuvor in diesem Ausmaß kennengelernt hatte. Beim Einsteigen mussten wir mühsam einen Platz ergattern, der für uns drei halbwegs reichen sollte. Auf den Gängen lagen hunderte jugendliche Reisende herum, mit den schweren Gepäckstücken meiner Damen hatte ich allergrößte Mühe, über die Liegenden drüberzusteigen und Susi und Mama nicht aus den Augen zu verlieren. Wie gesagt, ab Venedig, wo die meisten Jungen ausstiegen, hatten wir das Abteil für uns allein.

Wir konnten es uns bequem machen. Die beiden schliefen bald der Länge nach ausgestreckt tief und fest ein. Ich saß neben dem Gangfenster, die Vorhänge teils zugezogen, meine Beine auf die gegenüberliegende Seite gebettet, und nur leicht vor mich hindösend – erleichtert, das Ärgste überstanden zu haben. Da bemerkte ich, dass sich ein junges Mädchen, vielleicht um die zwanzig, barfuß schnell über den Gang laufend in Richtung des vorderen Zugteils bewegte. Noch fand ich diese Beobachtung lustig, aber bald überkam mich Unruhe, als sie wenig später zurückkam, bei jedem Abteil stehen blieb, stets auf die Gepäckregale spähend, so auch bei uns. Als sie mein Gesicht bemerkte, erschrak sie und lief weiter in Richtung Zugsende. Ich vermutete zu diesem Zeitpunkt noch, es mit einer potentiellen Diebin zu tun zu haben, schimpfte ihr hinterher und blieb weiter wachsam, während meine zwei Lieben weiterschliefen, ohne auch nur das Geringste bemerkt zu haben. Keine zehn Minuten später wiederholte sich dieser Vorgang, während des Zurückkehrens ständig in die Abteile spähend. Ich deutete ihr grob, „Leine zu ziehen“, sonst würde ich ihr gegenüber unangenehm werden. Ich war so etwas von nicht mehr schläfrig, zog den Vorhang ganz zu, hielt aber Wache, indem ich mein Gesicht zwischen Scheibe und Vorhang presste. Ich brauchte gar nicht lange zu warten, der beschriebene Vorgang fand noch eine Wiederholung, und ein viertes Mal auch noch, dann waren wir am Ende des oberen Kanaltals angekommen, und nach dem Halt an der Grenze kamen wir zum ersten Halt in Österreich, Villach. Es war etwa 3 oder 4 Uhr früh, da sah ich auf dem Bahnsteig besagtes Mädchen leicht torkelnd in Begleitung eines imposant wirkenden Mannes dem Ausgang zustreben. Ich war erleichtert. Mir begann es zu dämmern, um welche Art von Pärchen es sich gehandelt haben musste. Bis zur endgültigen Aufklärung sollte es noch einige Stunden dauern.

In den frühen Morgenstunden, der Zug raste gerade die Semmering-Strecke hinunter ins Wiener Becken, im ersten Waggon begann der Kaffee-Ausschank. Ich holte für meine zwei Kaffeeschwestern den heiß ersehnten Trank. Bei dieser Gelegenheit sah ich endlich einen Schaffner und erzählte ihm vom seltsamen Erlebnis beim Durchqueren des Kanaltals. Er wusste aber Bescheid, es hatte sich um eine „Dame“ und ihren Zuhälter gehandelt, die aus ihrem Urlaub in Rimini nach Hamburg wechselten (von wegen Urlaub, sicher hatten sie dort Geschäft und Vergnügen miteinander verbunden). Sie wurde, benebelt durch Alkohol und/oder Drogen, von ihrem Begleiter unbarmherzig immer wieder um einen Kaffee ausgeschickt, und jedes Mal musste sie unverrichteter Dinge wieder zurückkehren, durch viele Waggons hindurch. Sie hatte sich in ihrem Zustand aber nicht gemerkt, wo sie hingehörte, und so musste sie in alle Coupés blicken, um sich zurechtzufinden. Und sobald sie wieder bei ihrem Zuhälter war, wurde sie auch schon wieder auf die Reise geschickt.

Da empfand ich nachträglich grenzenloses Mitleid mit ihr, und es wurde mir zum ersten Mal diese grausame Abhängigkeit der Liebesdienerinnen vor Augen geführt, und viele Jahre später, als ich längst Witwer war, musste ich immer daran denken. Um einige Erfahrungen reicher (ich habe sie in meinem Buch „Und sie küssen doch“ beschrieben) gelang es mir sogar, eine fast Gestrandete aus ihrem Dasein zu befreien und ihr zu einem bürgerlichen Dasein mit Mann und Kind zu verhelfen. Ich hab’ dies als die einzige gute Tat in meinem Leben bezeichnet. Ich habe heute noch Kontakt mit ihr, und obwohl ihr Mann sie schon verlassen hat, ist sie jetzt in Hamburg in einer Prosektur beschäftigt und liebt ihren vierjährigen Buben abgöttisch.

Was mich nach diesem abwechslungsreichen Urlaub am meisten überraschte, war die Tatsache, dass Mama sich schon auf nächstes Jahr freute, da nahmen wir uns aber vor, mit einem Turnusbus des Reisebüros „Union“ an die mittlere Adria zu fahren, und die Bahn zu meiden.


Ende der Leseprobe

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