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Leseproben
    Rudolf Reischütz     "Märchen"    
160 Seiten, 13x19 cm, Softcover klebegebunden



Die Zauberin und der Spiegel

Es war einmal eine Königin, die war so schön, dass der König, ihr Gemahl, sehr stolz auf sie war. Er ließ in jedem Gemache des Schlosses einen Spiegel anbringen, damit sich die Königin darin besehen könnte, wann immer sie wollte.

Eines Tages kam ein altes Weib, welches aber eine verkleidete böse Zauberin war, ins Schloss und wollte mit der Königin selber reden. Diese war keineswegs hoffärtig und fragte die Alte freundlich nach ihrem Begehr. „Gib mir den größten und den kleinsten Spiegel, den du hast!“
Die Königin lachte. „Dünkst du dich so schön, dass du gleich zwei Spiegel haben willst?“ Die Zauberin stellte sich beleidigt und sagte, während sie sich zum Gehen wandte: „So soll deine Tochter durch diese zwei Spiegel Leid erfahren!“

Ehe die Königin, welche sehr erschrocken war, noch ein Wort sagen konnte, war die Alte verschwunden. Niemand konnte sagen, wohin sie gekommen war. Die Königin war nun sehr traurig, denn sie hatte nur eine einzige Tochter, welche sie sehr liebte. Aber der König ließ einfach alle Spiegel aus dem Schlosse entfernen und glaubte, damit hätte er das Unheil gebannt. Aber den größten und den kleinsten Spiegel hatte er vergessen, wegzuschaffen. Er hätte dies auch gar nicht vermocht, denn der größte Spiegel war der große Teich vor dem Schlosse, und der kleinste das Auge der Königin. Aber das wusste niemand.

Einmal spielte das Prinzesschen im Garten und kam auch zu dem Teich. Da jubelte es und klatschte vor Verwunderung in die Hände: „Sieh einmal an, Mutter! Du schaust da aus dem Wasser heraus und ich schaue aus deinem Auge heraus!“ Die Königin war sehr bestürzt und fasste das Kind schnell an der Hand, um es ins Schloss zurückzuführen. Aber das Prinzesschen riss sich los und war auf einmal verschwunden. Oh, wie weinten da die Königin und der König. Alle Leute im Lande waren traurig, denn alle liebten die Königin und das holde Prinzesschen. Überall suchte man nach der Alten, denn es war gewiss, dass sie das Kind gestohlen hatte, aber keine Spur war von ihr zu entdecken.

Die böse Zauberin aber hatte mitten in einem großen Walde ein sehr seltsames Haus. Es war aus lauter Bäumen gewachsen, die so dicht standen, dass ihre Zweige sich wie eine Mauer ineinander flochten. Niemand hätte in dem Hause eine Tür oder auch nur ein Fenster gefunden. Hier hauste die Zauberin mit ihrem Bruder, der ein grausamer Vogelfänger war. Jeden Tag legte er seine Leimruten aus und die Vögel, die er fing, sperrte er in Käfige ein und hing diese in die Zweige der Bäume, welche dieses Haus bildeten.

Hier war nun auch die kleine Prinzessin gefangen. Das arme Kind sah außer dem argen Vogelfänger und der noch ärgeren Zauberin keine Menschenseele. Da saß es betrübt am winzigen Fensterchen und blickte sehnsüchtig hinaus. Es klagte mit den gefangenen Vöglein um die Wette. Aber niemand hörte es.

Da war auch einmal ein Junge, der wollte gerne Jäger werden. Er wanderte in den großen Wald, um einen Lehrmeister zu suchen. So kam er in die Nähe des Zauberhauses. Er fand eine ausgelegte Leimrute, auf der ein schöner Fink gefangen saß. Der piepste jämmerlich und flatterte mit den Flügeln. Der Junge befreite ihn, denn er konnte die Vogelstellen nicht leiden. Aber schon wenige Schritte weiter weg fand er wieder eine Leimrute und dann eine dritte und noch viele andere. Alle entfernte er, und wenn sich ein Vogel gefangen hatte, befreite er ihn.

Auf diese Weise kam er ganz nahe an das Hexenhaus heran. Da hörte er die gefangene Prinzessin singen. Es war ein gar trauriges Lied, und die vielen gefangenen Vöglein in ihren Käfigen sangen mit. Der Junge suchte überall nach einer Tür oder einem Fenster, fand aber weder das Eine noch das Andere. Da kletterte er ganz einfach an den Ästen des sonderbaren Hauses hinauf, bis er die Prinzessin durch die dichten Zweige sehen konnte. Erst erschrak dieselbe ganz gewaltig, als sie auf einmal den Kopf des Jungen sah. Sie hatte während der langen Gefangenschaft nur die Zauberin und den Vogelsteller gesehen. Als aber der Junge so freundlich zu ihr sprach und sie fragte, wer sie sei und wie sie hinter diese lebende Mauer gekommen sei, da fasste sie Zutrauen und erzählte ihm ihr Schicksal.

Natürlich wollte er sie gleich befreien. Das war aber nicht so leicht, denn die vielen Fenster des Zauberhauses waren gerade groß genug, dass ein Vogel durchschlüpfen konnte, und die Türe war nur mit dem Zauberstabe zu öffnen. Den nahm aber die Zauberin immer mit, wenn sie fortging. Eben war sie wieder fortgegangen und der Bruder, der böse Vogelsteller, war auch nicht zu Hause.

Aber die Prinzessin hatte der Zauberin schon etwas abgelauscht, also sprach sie zu dem Jungen: „Wenn du tust, wie ich dir sage, dann kannst du mich befreien!“ Das wollte der Junge gerne. Da sagte die Prinzessin: „Mache erst die Käfige meiner Lieblinge auf, damit auch sie nicht länger gefangen sind! Dann reiche mir deine Hand durch das Fensterchen.“
Der Junge säumte nicht und öffnete alle Käfige. Da schwirrten die Vöglein glückselig ins Freie. Dann steckte er seine Hand durch das Fenster im Astwerk – die Hand der Prinzessin kam ihm Mädchen:

„Ich bin dein und du bist mein,
wir wollen sein zwei Täubchen klein.“

Da schlüpfte ein weißes Täubchen durch das Fensterchen und flog mit dem Tauber, der auf einmal davor saß, davon. Sie waren noch nicht weit geflogen, da kam die böse Zauberin mit ihrem Bruder daher. Als dieser die zwei Täubchen sah, wollte er sie sogleich haben und lockte sie. Aber die Vöglein waren nicht so dumm und flogen weiter. Als sie müde waren, setzten sie sich auf einen Ast und ruhten.

Inzwischen war die böse Zauberin nach Hause gekommen und merkte gleich, was geschehen war. Da geriet sie in schreckliche Wut. Sie rief den Bruder, welcher auch vor Zorn über die freigelassenen Vögel nicht wusste, wie er sich Luft machen sollte. Sie befahl ihm, sogleich die zwei Täubchen zu fangen, welche niemand anderer sein konnte, als die Prinzessin und ihr Befreier.

Der Vogelsteller ging gleich wieder fort und nahm eine Leimrute mit, welche mit einem Zauber begabt war. Die Täubchen würden ihm nicht entgehen! Aber die Prinzessin wusste Rat: Als sie den Vogelsteller kommen sah, sagte sie zu dem Jungen: „Rupf mir ein Federchen aus, so wie ich dir eines ausrupfen werde!“, und der Tauber tat so. Da rief das Täubchen:

„Ich bin dein und du bist mein,
wir wollen sein zwei Äpflein klein!“

Sogleich waren die Täubchen verschwunden und zwei Äpflein hingen nebeneinander auf dem Ast. Als nun der Vogelsteller mit der Leimrute kam, sah er verwundert die Äpfel und kehrte brummend und ärgerlich zu der Zauberin zurück. Diese schalt ihn aus: „Was bist du für ein Dummkopf! Hättest du doch die Äpfel mitgenommen! Das waren ja die zwei Ausreißer! Ich sehe schon, ich muss mit dir gehen. Allein bist du zu dumm.“ Und sie ging fort und nahm den Bruder und den Zauberstab mit.

Inzwischen hatte sich ein Wind erhoben und das Äpflein bat: „Ach lieber Wind, schüttle uns doch herunter!“ Und der Wind schüttelte den Baum, bis beide Äpflein herunterpurzelten. Da waren sie auf einmal wieder Menschen. Sie fassten einander an den Händen und liefen, was sie laufen konnten. Schon sahen sie das Schloss, wo die Eltern der Prinzessin wohnten. Schon liefen sie in den Garten hinein, da kam hinter ihnen die Zauberin mit dem Vogelsteller angerast. Die beiden hatten die Äpfel nicht mehr auf dem Baume gefunden, und der Wind, der leichtsinnige Geselle, hatte verraten, welchen Weg die zwei Kinder eingeschlagen hatten. Schon schwang die böse Zauberin ihren Stab, aber die Prinzessin rief schnell:

„Ich bin dein und du bist mein, wir wollen sein zwei Spiegelein!“

Im Nu waren der Junge und die Prinzessin verschwunden. Da standen plötzlich im Garten zwei blanke Spiegel. Wütend raste die Zauberin und ihr Bruder herbei, erblickten sich selbst in den Spiegeln und zerplatzten vor Wut. Nun war das ganze Königreich von der ständigen Bedrohung erlöst. Die Prinzessin und der Junge blieben auf ewig beisammen. Später heirateten sie und hatten viele schöne und tapfere Kinder.

Ende der Leseprobe
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